Brasilien: Alles Land ist indigen, und alles Eigentum ist kolonial

Drei mit grossen runden Federkränzen auf dem Kopf geschmückte Indigene © CC BY 2.0 DEED, Jefferson Rudy/Agencia Senado Mit Federn geschmückte junge indigene Frauen © CC BY 2.0 DEED, Jefferson Rudy/Agencia Senado Indigene Personen protestieren mit zahlreichen Plakaten Protest der Indigenen auf dem Camp des Freien Landes in Brasilia 2024 (© CC BY 2.0 DEED, Jefferson Rudy/Agencia Senado)

01.05.2024

Im 16. Jahrhundert nahm der Portugiese Pero Vaz de Caminha mit einem Schreiben das heutige Brasilien für die portugiesische Krone in Besitz - samt der dort lebenden Menschen. Seitdem kämpfen die indigenen Völker gegen Unrecht, Landraub, Gewalt und Tod. Jedes Jahr im April fordern sie in der Hauptstadt Brasilia mit dem Protestcamp "Freies Land" die Anerkennung ihrer angestammten Territorien ein.

Am 1. Mai 1500 sandte der Schreiber Pero Vaz de Caminha einen langen Brief an den portugiesischen König, in dem er "die Entdeckung dieses Eurer neuen Länder" meldete. In dem Brief beschrieb Caminha das Land, in dem er und 1.500 andere Männer, darunter der Kommandant der Flotte, Pedro Álvares Cabral, acht Tage zuvor, am 22. April, mit 13 Schiffen angelegt hatten, und schrieb es der portugiesischen Krone zu.

Das "neue Land" hieß in Wirklichkeit Pindorama und war bereits seit Menschengedenken von fast drei Millionen Menschen verschiedener indigener Völker bewohnt. Es handelte sich also nicht um eine Entdeckung, sondern um eine gewaltsame Invasion durch die portugiesische Krone, die das Gebiet später in Brasilien umbenannte.

Der von Caminha verfasste Brief, in dem er über die "Entdeckung" berichtet, ist das erste Dokument, das den Besitz der von den indigenen Völkern bewohnten Territorien in Pindorama fälscht. Auf der Grundlage dieses Dokuments wurden alle späteren falschen Eigentumstitel erstellt, durch die Logik des europäischen Rechtssystems auf Papieren "legalisiert" und durch das Narrativ der "Eroberung" legitimiert. Den indigenen Völkern und später den versklavten Menschen aus Afrika zwangen die Invasoren mit ihrer Brutalität im Laufe der Jahrhunderte diese "Logik" auf.

Seit 1500 kämpfen indigene Völker, die sich dem Völkermord und der systematischen Ausplünderung durch die Portugiesen, Spanier, Franzosen und Niederländer widersetzt haben, für das Recht, auf ihrem angestammten Land zu bleiben. Oder dorthin zurückzukehren, wenn sie von dort vertrieben wurden und gezwungen worden waren, in fremden Gebieten oder den Peripherien der großen städtischen Zentren Zuflucht zu suchen.

Der Artikel 231 der brasilianischen Verfassung von 1988 erkennt die "ursprünglichen Rechte der indigenen Völker auf das Land, das sie traditionell bewohnen" an. Das heisst ihre Rechte sind älter als die Gründung des Staates und der Begriff "Recht". Nach der Logik des herrschenden Rechtssystems reicht es jedoch nicht aus, dass die indigenen Völker die ursprünglichen Eigentümer ihres angestammten Landes sind, um dort sicher zu sein. Artikel 231 der Verfassung besagt, dass es Aufgabe des Staates ist, diese Gebiete abzugrenzen, sie zu schützen und dafür zu sorgen, dass ihr gesamtes Eigentum respektiert wird.

Dies ist jedoch nicht der Fall.

Weniger als 1 % der Bevölkerung

Das Verfahren zur Abgrenzung indigener Gebiete in Brasilien ist bürokratisch und langwierig und kann sich über Jahrzehnte hinziehen, ohne dass irgendwelche Schritte in Richtung eines Abschlusses unternommen werden. Nach Angaben der Bundesregierung gibt es in Brasilien derzeit 736 registrierte indigene Landgebiete. Davon wurden 477 vollständig legalisiert, während sich die übrigen 259 noch in verschiedenen Stadien des langwierigen Legalisierungsprozesses befinden. Weiterhin wurden viele Demarkationsprozesse noch nicht eingeleitet und sind in den vorstehendem Zahlen nicht enthalten.

 

Die Folgen des Diebstahls und der Plünderung indigener Ländereien über dieJahrhunderte zeigen sich in der geringen Zahl der Angehörigen dieser Völker, denen es gelungen ist, bis heute zu überleben. Nach den Daten der Volkszählung von 2022 gibt es in Brasilien heute 305 indigene Völker mit insgsamt 1,7 Millionen Menschen, die sich selbst als Indigene erklären. Diese Zahl entspricht nur 0,83 Prozent der brasilianischen Bevölkerung von mehr als 215 Millionen Menschen.

Geplante Langsamkeit

Der langsame und ineffiziente Prozess der Demarkierung von indigenem Land ist kein Zufall. Er entspricht den Interessen der Nachkommen der ersten Invasoren - heute Politiker, Richter und Mitglieder der Wirtschaftselite -, die weiterhin die Herrschaft und den Besitz über das Land haben wollen, das ihre Vorfahren erobert, gestohlen und ihnen durch falsche Dokumente als Vermächtnis hinterlassen haben.

Zwischen 2019 und 2021, während der rechtsextremen Regierung von Jair Bolsonaro, wurde die Nationale Indianerstiftung (FUNAI), die für Demarkationen zuständige Bundesbehörde, von dem Delegierten der Bundespolizei Marcelo Xavier geleitet, der kein einziges indigenes Land identifizierte, deklarierte oder homologierte und bereits laufende Demarkationsprozesse absichtlich verzögerte.

Solange ihr Land nicht abgegrenzt ist, werden indigene Völker auf brasilianischem Territorium weiterhin auf unterschiedliche Weise verletzt, vertrieben und ausgerottet, unter anderem durch von Politikern finanzierte Landmilizen, die mit derselben Brutalität vorgehen wie die ersten Eindringlinge, ihre Vorfahren.

Camp Freies Land

Trotz aller gegensätzlichen Kräfte - die nie aufgehört haben zu existieren - gewinnt der Kampf um das angestammte Land der indigenen Völker in diesen Tagen immer mehr an Schwung, sowohl auf dem Land als auch in den Städten.

Am deutlichsten kommt er in der Öffentlichkeit im Indigenen April zum Ausdruck, einem Monat der Proteste, Feiern und Erinnerungen, in dem die indigene Bevölkerung auf den Straßen, Plätzen und in der brasilianischen Presse im Mittelpunkt steht.

Das Camp des Freien Landes (ATL), eine landesweite Mobilisierung von Tausenden von Indigenen aus verschiedenen Völkern, ist eines der wichtigsten Ereignisse des Monats. Das ATL, das 2024 sein 20-jähriges Bestehen feiert, findet eine Woche lang in Brasilia statt, der Hauptstadt des Landes und Sitz der Bundesregierung und der Legislative.

 

In Karawanen aus verschiedenen Teilen Brasiliens kommen Vertreter hunderter indigener Völker auf die Straßen und öffentlichen Plätze der Bundesbehörden, um ihre Rechte einzufordern, Kämpfe und Strategien auszutauschen, Errungenschaften und ihre vielfältigen Kulturen zu feiern und der Regierung zu sagen, dass die Rechte der Indigenen nicht verhandelbar sind.

Jahr für Jahr ist die Hauptforderung der indigenen Völker, die auf dem ATL zusammenkommen, die Forderung nach Land und Territorium, wo die Gegenwart, die Vergangenheit und auch die Zukunft ihren Ursprung haben. "Unser Grenzstein ist uralt. Wir waren schon immer hier", so lautet das Motto dieser zwanzigsten Auflage des Lagers.

Aus dieser historischen Perspektive kann man auch sagen, dass es zwischen den Invasionen von 1500 und heute keinen Bruch, sondern Kontinuität gibt. Und wenn der Urspung alles Landes den indigenen gehört, dann ist auch aller Eigentum von Land das Ergebnis der Invasionen der Koloniallherren.


  1. langen Brief an den portugiesischen KönigMINISTÉRIO DA CULTURA, Fundação Biblioteca Nacional, Departamento Nacional do Livro. A CARTA DE PERO VAZ DE CAMINHA: https://objdigital.bn.br/Acervo_Digital/livros_eletronicos/carta.pdf

  2. Marcelo XavierArticulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB), 2022. Raio X Marcelo Xavier: https://apiboficial.org/foraxavier/

  3. von Politikern finanzierte LandmilizenBrasil de Fato, 30.1.2024. 'Invasão Zero': quem está por trás do grupo investigado pela morte de Nega Pataxó: https://www.brasildefato.com.br/2024/01/30/invasao-zero-quem-esta-por-tras-do-grupo-investigado-pela-morte-de-nega-pataxo

  4. Camp des Freien Landes (ATL)Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB), 2024. Acampamento Terra Livre 2024:https://apiboficial.org/atl2024/

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